Maria

Der Begriff der Reinheit im Christentum

7.2 Auswirkungen auf die Rolle der Frau

Nachdem ich in den obigen Abschnitten dargelegt habe, dass im Protestantismus spezifische Reinheitsvorstellungen anzutreffen sind, die sich beispielsweise von denen des Katholizismus deutlich unterscheiden, möchte ich nun auf die Frage eingehen, ob und wie diese Spezifik die gesellschaftliche und kirchliche Rolle der Frauen im Protestantismus beeinflusst hat und welche genaueren Auswirkungen diese Vorstellungen mit sich brachten. Wohlrab-Sahr/Rosenstock führen ein von Edmund Leites beschriebenes Beispiel aus dem 18. Jahrhundert an. Es geht darin um die Zerstörung der traditionellen Vorstellung, Frauen seien das per se unreine Geschlecht: „Frauen galten nun als rein und ohne starke sexuelle Antriebe und wenngleich sie noch immer aus öffentlichen Institutionen mit moralischer Autorität wie den Universitäten ausgeschlossen waren, galt Sittlichkeit doch als Zentrum ihres Wesens“.[135]

Dabei weisen Wohlrab-Sahr/Rosenstock auf eine meiner Meinung nach äußerst wichtige Besonderheit dieser Art des Zertrümmerns von Stereotypen hin – die Entsexualisierung des weiblichen Geschlechts. Reinheit wird wieder mit der Abwesenheit von Sexualität gleichgestellt, was einen deutlichen Schritt zurück in die Zeiten des Askeseideals bedeutet – auch wenn diese Veränderung einige positive Auswirkungen auf die gesellschaftliche Stellung der Frau haben konnte, so lag ihr doch meines Erachtens eine regressive theoretische Basis zugrunde.

Der Fortschritt, der heutzutage im protestantischen Glauben zu beobachten ist, kann aber nicht verdecken, dass zu Zeiten Luthers ganz andere Einstellungen gegenüber Frauen vorherrschten. So findet man in Luthers Predigt „vom gros Sakrament“[136], die zu der Reihe der Invocavit-Predigten gehört, beispielsweise folgende Aussage: „Ihr habt gehört wie ich wider das närrische Gesetz des Papstes gepredigt habe [...] kein Weib soll das Altartuch waschen, darauf der Leichnam Christi gehandelt wird, und wenn es eine reine Nonne wäre, es wäre denn vorher von einem reinen Priester gewaschen“.[137]

Der Protestantismus spielt bezogen auf unser Thema eine ganz besondere Rolle im Weltchristentum, denn hier hatten die Diskussionen zum Thema der kirchlichen Stellung der Frau tatsächlich Früchte gebracht - der erste Fall einer Gleichberechtigung der Geschlechter innerhalb der Kirche. Im August 1992 war es soweit – in Deutschland, dem Ausgangspunkt des Protestantismus, wurde die erste Frau in ein hohes kirchliches Würdenamt eingeführt. Die Pröpstin Maria Jepsen wurde in Hamburg zur Bischöfin gewählt – ein Geschehen, das weltweit als "epochemachender Augenblick" interpretiert wurde.[138]

Die Hauptentscheidung fiel allerdings noch etwas früher – Irmtraud Götz von Olenhusen nennt den 1. Januar 1978 als einen der wichtigsten Meilensteine in der Geschichte der EKD, denn an diesem Tag wurden Männer und Frauen im Pfarrerstatus gleichgestellt.[139]

Die Einzelheiten und historischen Hintergründe dieses nicht nur kirchengeschichtlich bedeutsamen Schrittes möchte ich im Folgenden kurz skizzieren. Laut Christina Globig wurde die Frage der Frauenordination für die deutsche protestantische Kirche mit der Zulassung der Frauen zum Theologiestudium am Anfang des 20. Jahrhunderts aktuell, da sie fest mit der Frage der Berufsperspektiven der Absolventinnen eines solchen Studiums verknüpft war.[140]

Im Lichte der Vorstellungen von der untergeordneten Rolle der Frau, die in Luthers Werken ziemlich eindeutig formuliert sind, stellt sich die Frage nach der theologischen Begründung des Phänomens Frauenordination. Diesen Punkt hat Globig meiner Meinung nach perfekt aufgegriffen: Man solle nicht blind auf die Einhaltung der lutherischen Tradition bestehen, sondern diese logisch und unter Berücksichtigung der modernen Realitäten weiterentwickeln: "Lutherisch kann man theologisch sowohl die Frauenordination als auch die allgemeine Berufstätigkeit von Frauen positiv begründen, denn man geht ekklesiologisch [...] von der Voraussetzung der allgemeinen Vollmacht der Getauften aus".[141]

Das kirchliche Amt an die aktuelle gesellschaftliche Situation anzupassen lässt sich somit durchaus mit Luther vereinbaren. Denn Luthers Verständnis zufolge ist das Amt in erster Linie dazu da, die Aufgaben der Kirche zu erfüllen – Amtsträger werden damit zu Kirchenmitarbeitern, die quasi einen Job zu ihrem Hauptberuf (und ihrer Berufung) gemacht haben. Laut Globig wurde das Amt der Frauen von Luther abgelehnt, weil sie "im Kontext der Ständelehre"[142] eine untergeordnete Position inne hatten. Auf diese Frage werde ich etwas später im Laufe des Kapitels zurückkommen.

John Vikström bietet dem Leser in seinem Artikel Die Frau und das geistliche Amt – eine Frage der Ethik oder eine Frage des Glaubens und der Konstitution der Kirche? eine sehr gut formulierte theologische Begründung der Möglichkeit der Frauenordination. Seine Argumentation beruht in erster Linie auf dem bereits erwähnten Begriff des Amtes, der im Protestantismus "keine selbstständige Institution im Verhältnis zu Gottes Wort und den Sakramenten"[143] ist und somit nicht an die Person des Dieners gebunden ist. Vikström betont die Bedeutung des Antidonatismus der lutherischen Bekenntnisschriften und illustriert dies mit folgendem Zitat: "Dennoch sind die Sakramente wirksam, auch wenn die Priester, durch die sie gereicht werden, nicht fromm sind".[144]

Wie ist der Begriff 'fromm' in diesem Kontext zu verstehen? Aus meiner Sicht bedeutet die von Luther zugelassene Nicht-Frommigkeit der Priester nichts anderes als die Aufhebung des Gebotes der Reinheit für die Ausübung des kirchlichen Dienstes. Luther selbst bekräftigt diese Aussage mit dem folgenden extremen Beispiel: "Hätte der Teufel selbst sich in die Kirche geschlichen, sich zum Pfarramt berufen lassen und das Evangelium verkündet [...], dann müssten wir trotzdem allem glauben und bekennen, dass es mit dem Sakrament ihre Legitimtät habe".[145] Dazu ist zu sagen, dass das Ausüben des Amtes durch Frauen in Notsituationen (also wenn es keine Männer gibt, die die Aufgabe übernehmen könnten) auch von Luther anerkannt wurde (wenngleich mit der Ausnahme des Abendmahls).[146]

Es stellt sich die Frage, warum keine Frau zu lutherischen Zeiten – und gute vier Jahrhunderte danach – das Recht auf die Verteilung der Sakramente erlangt hat. Grundsätzlich basierte die ablehnende Haltung Luthers in Bezug auf das Priesteramt der Frau auf zwei Begründungsmustern: Zum einen auf dem im Korintherbrief ausgedrückten Gebot des weiblichen Schweigens in der Kirche, zum zweiten auf der für Luther offensichtlichen Naturordnung, der zufolge eine Frau nicht die für die priesterliche Aufgabe nötigen Fähigkeiten besitzt.

Etwas detaillierter analysiert Vikström Luthers Motive, Frauen vom Priesteramt fernzuhalten. Das im Korintherbrief enthaltene Gebot wird mit dem Wirken des Heiligen Geistes begründet, auf den, so Luther, die Vorstellung von einer Ordnung, in der Frauen den Männern hörig sein müssen, ursprünglich zurückgehe. Vikström beschreibt Luthers Sicht auf diese Frage folgendermaßen: „Die Ursache ist schlicht und einfach, dass sie [Frauen] nicht die Fähigkeit besitzen dieser Aufgabe [dem Predigen] gerecht zu werden. Wer predigt und unterrichtet, bedarf einer guten Stimme, einer klaren Aussprache, eines guten Gedächtnisses und anderer natürlicher Gaben. Wer all diese Gaben nicht besitzt, soll still sein und andere reden lassen“.[147]

Was ist nun, dieser Argumentation zufolge, die Ursache dafür, dass dem weiblichen Geschlecht die Fähigkeit zum Ausüben des Kirchenamtes vollkommen fehlt? An dieser Stelle taucht – nicht zum ersten Mal – die Schöpfungsgeschichte auf: Als Strafe für den Sündenfall verlor die Frau einen Teil ihrer natürlichen Fähigkeiten – darunter auch die Fähigkeit zu unterrichten und zu leiten. Deswegen musste sie sich, laut Luther, ewig dem Mann unterordnen.[148] Diese natürliche Ordnung galt sowohl im theologischen als auch im gesellschaftlichen Sinne. Allerdings stammt von Luther gleichzeitig das Gebot für jeden gläubigen Christen, jederzeit das Sakrament zu predigen – jedoch beschränkt sich die Sphäre des Predigens für die Frau auf das familiäre Umfeld.[149]

Vikström fasst die oben beschriebene Position so zusammen: "Luther nimmt also eindeutig Abstand vom weiblichen Pfarrer; aber er tut es nicht unter Berufung auf die Gültigkeit der Predigt und der Sakramente. Ausgeschlossen vom Predigeramt wird die Frau durch das vom Heilgen Geist bestätigte Naturgesetz".[150] Diese Linie wurde auch nach Luther grundsätzlich weiter verfolgt, doch standen im Mittelpunkt nicht die konkreten Anweisungen Luthers, sondern eher von ihm hinterlassene Richtlinien zum Ausüben des kirchlichen Dienstes. Vikström beruft sich auf die Untersuchung Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften von E.Schlink, indem er behauptet: "Für die wahre Einheit der christlichen Kirche ist es daher nicht nötig, überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten kirchlichen Ordnungen einzuhalten".[151]

Diese Aussage wird mit Beispielen aus der Reformationszeit illustiert. Vikström erwähnt etwa De veris et falsis adiaphoris, das 1549 verfasste Werk von Mattias Flacius, in dem dieser bedeutende Wittenberger Theologe einerseits zwar behauptet, dass es 'zweckmäßiger' sei, den Männern den Kirchendienst zu überlassen, diese Haltung aber andererseits mit dem Hinweis auf den ersten Brief des Paulus an die Korinther begründet ("Lasset alles ehrbar und ordentlich zugehen").[152] Somit basiert seine Argumentation ausschließlich auf "Gottes Gebot über Schicklichkeit und Ordnung in der Kirche".[153]

Ein weiteres Beispiel ist die von Laurentius Petris stammende Interpretation der Kirchenordnung, die 1593 den Kirchenregeln der lutherischen Gemeinden in Schweden und Finnland zugrunde gelegt wurden.[154] Auch hier werden zwar Richtlinien für das Verhalten in der Kirche und die Ausübung des krichlichen Dienstes gegeben, es wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass "die Christen die Freiheit haben, Verordnungen dieser Art im Hinblick auf bestimmte Umstände mit gutem Gewissen zu ändern".[155]

Beide Beispiele haben gemeinsam, dass sie eine theologische Basis für die mögliche Begründbarkeit der Frauenordination liefern. Außerdem lässt sich an ihnen die offensichtliche Infragestellung einer Reihe von Argumenten, die für den traditionellen Katholizismus typisch sind, ablesen.

Die Motivierung für den Ausschluss von Frauen aus dem Kichendienst – dies sollte anhand der Ausführungen Vikströms gezeigt werden – konnte somit sehr unterschiedliche Formen annehmen. Vikström betont, dass die Ursprünge einer positiven Hinwendung zur Frauenordination bereits in diesen Schriften zu finden sind, da sie die Einzelheiten der Kirchenordnung als adiaphoron darstellen und damit einen perfekten Ausgangspunkt für die ihre Aktualisierung dieser bieten.[156]

Die bereits erwähte Aufhebung des Zölibats hatte, wie durch die Untersuchung Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation von Lyndal Roper deutlich wird, auf den ersten Blick zwar postive Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Sexualität. Doch waren mit ihr auch deutliche Nachteile verbunden, von denen in erster Linie Frauen betroffen waren. Roper spricht von einer stark frauenfeindlichen Tendenz, die in der Antizölibatspropaganda in der Mitte des 16. Jahrhunderts erkennbar war.[157]

Die evangelischen Priester erschienen darin als tugendhafte Vorbilder für ein gottesfürchtiges und mit den aus der Heiligen Schrift ableitbaren Regeln im Einklang stehendes Eheleben. Die katholischen Geistlichen – meistens waren es Mönche – wurden dagegen als lüsternde, müßiggängerische Sünder dargestellt, die sich von Frauen beim Beichten verführen ließen. Wie Roper betont, waren Frauen in diesen Texten "keineswegs passive Opfer ihrer Beichtväter, ganz im Gegenteil, sie galten als leicht verführbar und willig".[158] Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass solche Propaganda enorm zur Befestigung des Stereoptyps von Frauen als dem 'lüsternden Geschlecht' beitrug.

Die von Burghartz beschriebene Änderung des Reinheitskonzeptes im Bezug zur Ehe hatte negative Auswirkungen für beide Geschlechter, die nun mit harten Strafen für Unzucht rechnen mussten, doch tatsächlich waren davon insbesondere Frauen betroffen: "In der Praxis verschlechterte aber [die neue Regelung] [...] vor allem die Chancen für Frauen, ihre Ansprüche auf Einhalten von Eheversprechen vor dem Ehegericht durchzusetzen".[159] Dies bedeutete, dass Frauen, von deren Jungfräulichkeit – und damit ist vor allem die 'soziale', einen guten Ruf garantierende Jungfräulichkeit gemeint – ihre gesellschaftliche Position abhing, sich in einer weitaus nachteiligeren Lage befanden, da die 'Wiederherstellung' ihrer Reinheit nicht mehr möglich war.

Die fast paradoxe Tatsache der benachteiligten kirchlichen Stellung der Frauen im Protestantismus innerhalb mehrerer Jahrhunderte – trotz Abwesenheit besonderer Reinheitsanforderungen an die Person des Priesters - betont auch Ann-Marie Korte: „And even Protestantism, which knows neither purity laws nor a cultic priesthood, has a great difficulty in establishing a positive link between God and the female body“.[160]

Es lässt sich also zusammenfassen, dass obwohl Protestantismus zweifelsohne als die 'progressivste' Abzweigung des Christentums im Bezug auf die Einstellung zum Thema Frauenordination bezeichnet werden kann, auch hier von der tatsächlichen konsequenten Gleichstellung der Geschlechter nicht gesprochen werden darf. Begriff der Reinheit spielte eine besondere Rolle in den evangelischen Kirchen – dies spiegelt sich in der spezifischen Stellung des Familienlebens, ihrer betonten 'Reinheit' wider.

[135] Leites zit. n. Wohlrab-Sahr/Rosenstock, S. 293.

[136] Luther zit. n. Angenendt, S. 307.

[137] Luther zit. n. Angenendt, S. 307.

[138] Lutherische Weltinformation Genf 26 zit. n. Globig, Christine: Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie: ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch. Göttingen 1994, S. 27.

[139] Vgl. Götz von Olenhusen, Irmtraud: Die Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert: Forschungsstand und Forschungsperspektiven (Einleitung). In: Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hrsg.): Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart u.a. 1995, S. 16.

[140] Vgl. Globig 1994, S. 29.

[141] Ebd., S. 40.

[142] Vgl. Ebd.

[143] Vikström, John: Die Frau und das geistliche Amt – eine Frage der Ethik oder eine Frage des Glaubens und der Konstitution der Kirche? In: Gössmann, Elisabeth, Bader, Dietmar (Hrsg.): Warum keine Ordination der Frau? Unterschiedliche Einstellungen in den christlichen Kirchen. München u.a.1987, S. 74.

[144] Luther zit. n. Vikström, S. 74.

[145] Ebd., S. 77.

[146] Vgl. Ebd., S. 78.

[147] Ebd., S. 76.

[148] Vgl. Ebd., S. 77.

[149] Vgl. Ebd., S. 75.

[150] Ebd., S. 78.

[151] Ebd., S. 79.

[152] 1 Kor 14, 37

[153] Vgl. Vikström 1987, S. 80.

[154] Vgl. Ebd.

[155] Vgl. Ebd.

[156] Ebd., S. 80-81.

[157] Vgl. Roper, Lyndal: Das fromme Haus: Frauen und Moral in der Reformation /. Aus dem Engl. von Wolfgang Kaiser. Frankfurt/Main u.a. 1995, S. 22.

[158] Ebd., S. 22.

[159] Burghartz 1992, S. 40.

[160] Korte 2000, S. 327.
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