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5, Ursprünge der Reinheitsvorstellungen im antiken Christentum
Bevor ich mich mit verschiedenen Abzweigungen des Christentums im einzelnen beschäftige, möchte ich einen Blick auf die Ursprünge der Reinheitsvorstellungen in dieser Religion werfen. Woher kamen die Reinheitsgesetze der Antike? Eine detaillierte Antwort auf diese Frage findet man im Buch Die eine Christenheit auf Erden von Dorothea Wendebourg.
Die Autorin beginnt ihre Ausführungen mit einer überraschenden Beobachtung: das Neue Testament war eine Riesenherausforderung für die ersten Christen, weil es alle damals existierenden Reinheitsvorstellungen (von denen eine Großzahl bereits im Alten Testament anzutreffen war) auf einen Schlag ablehnte. Diese Feststellung illustriert sie mit der folgenden Aussage Jesu: „Nicht diese oder jene Speise, die in den Menschen hineingeht, verunreinigt ihn, sondern das was aus seinem Herzen kommt“.[48] Mit ihren eigenen Worten deutet sie diese von Jesus zum Ausdruck gebrachte neue Sichtweise folgendermaßen: „In einer Umwelt, für die Unterscheidung zwischen rein und unrein zu den religiösen und sozialen Grundkategorien gehörte, gab er ihr den Abschied, genauer, er siedelte das Gegeneinander von Gottferne und Gottnähe allein im Gewissen des Menschen, nicht im Bereich der Dinge an und ließ rein und unrein nur noch in diesem Sinne bestehen“.[49]
Dieses revolutionäre Statement hatte logischerweise seine Konsequenzen: Wendebourg weist beispielsweise auf die neue Deutung von Reinheitsvorstellungen durch den Apostel Paulus hin, der erklärte, dass der christliche Glaube und das Taufritual allein schon ausreichende Bedingungen der kultischen Reinheit darstellten.[50]
Die Entscheidung des Jerusalemer Apostelkonzils war schon etwas kompromissbereiter: den Christen wurde empfohlen, um Auseinandersetzungen mit ihren jüdischen Nachbarn zu vermeiden, zumindest einige der üblichen Reinheitsvorschriften (vor allem in Bezug auf Essens- und Sexualgebote) einzuhalten. Doch hat laut Wendebourg diese Tendenz eine unerwartete Richtung genommen: „Im Westen die minuziösen Ausführungen der Im Westen die minuziösen Ausführungen der früh- und hochmittelalterlichen Moraltheologie und Kanonistik, im Osten die vielfältigen Reinheitsvorschirften und -riten, die sich in den Kirchen innerhalb und außerhalb des oströmischen Reiches nach und nach bis ins Mittelalterherausbilden und bis heute weitgehend in Geltung stehen“..[51]
Wie konnte das passieren, nachdem doch Jesus seinen Anhängern gepredigt hatte, dass Reinheit allein im Herzen zu suchen sei? Wendebourg nennt folgende Gründe: die Theologen des antiken Christentums mussten sich einerseits an die Worte Christi, (sowie Paulus' Gebote) halten, andererseits bestand ihre Aufgabe darin, eine Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament herzustellen. Die levitischen Gesetze vollkommen abzulehnen hätte bedeutet, dass der Gott der beiden Testamente nicht ein und derselbe ist. Da dieses aber nicht denkbar war, versuchten die Theologen die Reinheitsgesetze des Alten Testaments hermeneutisch zu deuten und zwar mithilfe von Allegorese und Typologie: „Man allegorisierte die Aussagen über die Zustände der Reinheit und Unreinheit, indem man sie auf geistig-sittliche Qualitäten bezog, und man typologisierte die Aussagen über die Reinigungsmittel, indem man sie als Vorbilder des Todes Christi oder der Taufe deutete“.[52]
Auf diese Weise ließ sich eine Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen herstellen, denn obwohl es für die Gläubigen keine spürbare Reinheit mehr gab, da sie durch Jesus bereits rein geworden waren, verloren die alten Reinheitsgesetze ihre Bedeutung nicht, da Jahwe in ihnen eine „höhere geistige Botschaft, die es unter dem fleischlichen Buchstaben zu entdecken gelte“ übermittelte.[53] Als interessantes Beispiel dafür nennt Wendebourg die Reinheit der Wiederkäuer, die den Menschen immer wieder dazu bringen sollte, an die Worte Gottes zu denken.[54]
Es gibt allerdings auch etwas radikalere Einstellungen zu diesem Thema. Beispielsweise behauptet Tarja Philip in ihrem Buch Menstruation and Childbirth in the Bible: „Contrary to Judaism, in which the purity laws of Leviticus and their interpretation were an active part of religious life, these laws lost their relevance in Christianity“.[55] Gegen diese Position ist einzuwenden, dass der hier erwähnte Bedeutungsverlust der alttestamentlichen Reinheitsgebote keineswegs ein vollständiger war, wie dies etwa den bereits genannten Ausführungen von Dorothea Wendebourg entnommen werden kann. Mehrere Reinheitsvorstellungen, die für lange Zeit das religiöse Leben in erheblichem Maße mit bestimmten und auch heute in den verschiedenen Abzweigungen der christlichen Religion anzutreffen sind, haben ihren Ursprung im Alten Testament und somit im Judentum.
Anne-Marie Korte betont die besondere Bedeutung der kultischen Reinheit der Frauen in beiden oben erwähnten Religionen: „The laws regulating women's religious purity [...] deeply affect women's lives even today, for Judaism and Christianity alike put an extraordinary great emphasis on [it]“.[56] Sie illustriert diese Aussage mit dem Vergleich von orthodoxen jüdischen Vorschriften, die die Isolation einer menstruierenden Frau vorsehen, und katholischen Doktrinen zur Jungfräulichkeit der Mutter Gottes.[57] Auf die besondere Bedeutung der Reinheitsvorschriften und -vorstellungen innerhalb des Christentums werde ich in den folgenden Kapiteln immer wieder zurückkommen.
Kaum Kommentare, so Wendebourg, gibt es zu den Reinheitsgeboten im Bereich der Sexualität. Die wenigen überlieferten Bemerkungen zu diesem Thema lehnten zwar einige Gebote (wie z.B. das Pflichtbaden nach dem ehelichen Geschlechtsverkehr) ab, doch allgemein blickten die Theologen des frühen Christentums den strengen levitischen Regeln positiv entgegen. So kam es dazu, dass die alttestamentlichen Reinheitsvorschirften nun auf neue Weise verstanden wurden: „nicht kultisch, sondern im Sinne eines bestimmten Verständnisses gerade der Verinnerlichung der Kategorie von rein und unrein im Neuen Testament“.[58]
Wendebourg sieht darin die Ursprünge der stoischen Sexualethik, die auf dem Axiom beruht, dass menschliche Sexualität ausschliesslich für das Zeugen der Kinder bestimmt ist: „es gibt kaum Theologen der frühen Kirche, bei dem sich das stoische Axiom nicht fände, und für sie alle steht fest, dass ein 'reiner' Christ derjenige ist, der sein eheliches Leben danach ausrichtet, wenn er nicht überhaupt unverheiratet bleibt“.[59]
Eine besondere Rolle spielt hier Tertullian, der seine Auslegungen der alttestamentlichen Reinheitsvorstellungen auf dem Gebiet der „Theologie des Amtes“[60] entwickelt. Er beschreibt Reinheit als Hauptcharakteristikum eines Priesters und verbindet das Erreichen dieses Zustandes mit bestimmten Einschränkungen im Eheleben: beispielsweise darf ein Priester weder ein zweites Mal heiraten, noch mit einer Frau Ehe schliessen, die bereits verheiratet war und dadurch nicht mehr jungfräulich ist. Bei der Forderung, Gebet und jede Form von sexuellen Aktivitäten streng auseinander zu halten, beruft sich Tertullian auf die alttestamentliche Aussage „Ihr sollt heilig sein, weil Gott heilig ist“.[61] Heilig wird in diesem Kontext offensichtlich als Synonym von rein verstanden.
In den Werken des Theologen Origenes findet man Aussagen, die jede Art von Körperlichkeit abwertend darstellen: „Der heilige Geist entferne sich von den Christen, wenn sie ehelichen Verkehr übten“.[62] Schwangerschaft und Geburt zählen ebenso zu den unreinen Dingen – somit wird die Notwendigkeit der Kindertaufe begründet. Auch Origenes gründet seine Überlegungen auf den alttestamentlichen Vorschriften.
Bereits in diesem Zeitabschnitt kann man feststellen, dass die meisten Reinheitsvorschriften als nachteilig für die Frauen gefasst werden. Beispielsweise nennt Bischof Dionys von Alexandrien die Menstruation als eine Form der Unreinheit, die den Frauen den Zugang zur Kirche vorübergehend sperrt: „D.h., die Christin darf dann wohl beten, doch dass sie sich dem Altar näherte und Leib und Blut Christi empfinge, sei undenkbar – dazu müsse man an Körper und Seele rein sein“.[63]
Wendebourg beschränkt ihre Untersuchung nicht auf die Werke der frühen christlichen Theologen, sondern beleuchtet das Thema zusätzlich aus einem weiteren Blickwinkel, nämlich dem der praktischen Anweisungen für das Gemeindeleben. Sie weist darauf hin, dass die ersten derartigen Dokumente aus dem dritten Jahrhundert stammen, da man zu diesem Zeitpunkt „das kirchliche Leben stärker und umfassender zu ordnen“[64] begann. Allerdings betont Wendebourg einschränkend die relativ kleine Anzahl dieser Quellen, die zusätzlich noch einen „örtlich begrenzten Geltungsbereich“[65] aufweisen.
Im Traditio Apostolica, dem Werk von Hippolyt, einem der bedeutendsten Kirchenlehrer des römischen Reiches, wird insbesondere „das Verhältnis von Reinheit und Gebet“[66] in den Mittelpunkt gerückt. Der Autor hält sich an die Aussage, Reinigungsbäder nach dem Geschlechtsverkehr seien nicht erforderlich, da die reinigende Funktion bereits durch das Taufritual gewährleistet sei. Allerdings schlägt er ein neues, ziemlich seltsames Ritual vor, der diese Theorie zum Ausdruck bringen soll: „Sie sollten in die Hände spucken und sich mit ihrem Speichel bekreuzigen; so kämen die Gabe des Geistes und das Taufwasser wieder aus dem Herzen hervor – dem Ort, an dem sich nach den Worten Jesu Reinheit und Unreinheit des Menschen entscheiden [...] - und reinigten den Christen von Kopf bis Fuß“.[67]
Diese Anweisung ist ein deutliches Beispiel der Ablehnung der alttestamentlichen Gebote. Außerdem weist Wendebourg darauf hin, dass trotz einer großen Anzahl zum Teil sehr unterschiedlicher Auslegungen der Reinheitsvorschriften des Alten Testaments die Entwicklung insgesamt doch eine eher restriktive, von mehreren Einschränkungen geprägte Tendenz aufwies. Die von Jesus gepredigte Reinheit, die alleine im Herzen statt fand und auf keinen Förmlichkeiten beruhte, die Reinheit, um die sich die frühchristlichen Theologen bemüht hatten, konnte sich nicht komplett durchsetzen.
Wendebourg nennt eine Mehrzahl Gründe, die zu dieser Entwicklung beigetragen hatten: „nie abgebrochene Gewohnheiten, Tabuvorstellungen, asketische Ideale, dualistische Züge und alttestamentliche Einflüsse“.[68] Aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren entstand die christliche Reinheitstradition, die laut Wendebourg, sich in den vierten und fünften Jahrhunderten endgültig etabliert hatte.[69]
Arnold Angenendt sieht die Wurzeln des christlichen Askesetriumphes in der antiken Philosophie, beispielsweise in der der Stoiker, die „das Freiwerden von aller Leidenschaft“[70] priesten. In seinem Artikel „Mit reinen Händen“. Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese weist er darauf hin, dass die meisten frühchristlichen Theologen sich auf die antiken Vorstellungen orientierten, die einem wahren Philosophen sexuelle Enthaltsamkeit vorschrieben. Das Christentum etablierte sich somit in erster Linie als Philosophie: „Die von Jesus propagierte Lehre und Lebensweise in eine asketische Form umzuwandeln, die vor der antiken Philosophie und Askese bestehen konnte ist früh schon christliches Bestreben gewesen“.[71]
Angenendt zitiert dabei Peter Brown, der mit seinem Buch Die Keuschheit der Engel einen Versuch unternommen hat zu zeigen, dass die antike vorchristliche Welt kein „sonniges 'Paradies der Repressionsfreien“[72] war, sondern ziemlich strenge Reinheitsvorstellungen hatte. Seiner Meinung nach stand Paulus, der in seinen Briefen leibliche Enthaltsamkeit propagierte, unter dem Einfluss der griechischen Philosophie.[73]
Nochmals betont Angenendt die Tatsache, dass die kultischen Reinheitsvorstellungen im Christentum nicht auf dem Neuen Testament basieren. Dies illustriert er mit dem folgenden Zitat: „Begreift ihr nicht, dass alles, was durch den Mund (in den Menschen) hineinkommt, in den Magen gelangt und dann wieder ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen und das macht den Menschen unrein“.[74]
Die Beweise dafür findet er in der Didaskalia, in der der Zustand einer menstruirenden Frau, sowie der Eheleute nach dem Geschlechtsverkehr als rein bezeichnet wurde und nicht als Hindernis zum Ausführen des Kultes galt, allerdings nicht ohne dem Text „eine gewisse Nachdrücklickheit“[75] anzumerken, die das Nichtgültigmachen der polaren Meinungen zum Ziel hatte.
Das oben Beschriebene lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Schwierigkeit, vor die sich die Theologen des frühen Christentums gestellt sahen, bestand darin, einerseits die alttestamentlichen Reinheitsgesetze nicht auf einen Schlag ablehnen zu können und zugleich nach plausiblen Erläuterungen für diejenigen Vorschriften suchen zu müssen, die es zu übernehmen galt. Die Folge dieser besonderen hermeneutischen Herausforderung war, dass in Ihren Werken - und dementsprechend auch in den christlichen Gemeinden selbst – eine deutliche Transformation des Begriffs der christlichen Reinheit stattfand.
[48] Mk 7,15 ff.
[49] Wendebourg, Dorothea: Die eine Christenheit auf Erden: Aufsätze zur Kirchen- und Ökumenegeschichte. Tübingen 2000, S. 2.
[50] Vgl. Ebd.
[51] Ebd.
[52] Ebd., S. 7.
[53] Ebd.
[54] Vgl. Ebd.
[55] Philip 2006, S. 2.
[56] Korte 2000, S. 318.
[57] Vgl. Ebd.
[58] Wendebourg 2000, S. 9.
[59] Wendebourg 2000, S. 10.
[60] Ebd.
[61] Vgl. Ebd.
[62] Ebd., S. 12.
[63] Ebd., S. 18.
[64] Vgl. Ebd., S. 15.
[65] Vgl. Ebd., S. 14.
[66] Vgl. Ebd., S. 15.
[67] Ebd., S. 16.
[68] Ebd., S. 21.
[69] Vgl. Ebd.
[70] Vgl. Angenendt, Arnold: „Mit reinen Händen.“ Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese. In: Jenal, Georg (Hrsg.): Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag. Stuttgart 1993, S. 297.
[71] Ebd., S. 299.
[72] Brown zit. n. Angenendt, S. 300.
[73] Ebd., S. 298.
[74] Mt 15,17 f.
[75] Vgl. Angenendt, 1993. S. 303.
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