Maria

Der Begriff der Reinheit im Christentum

3. Reinheit im Christentum

Zuerst möchte ich versuchen, Reinheit im Christentum allgemein zu beschreiben ohne auf bestimmte Abzweigungen dieser Religion detailliert einzugehen. Mit den Besonderheiten der Reinheitsvorstellungen im Katholizismus, Protestantismus, sowie russisch-orthodoxen Christentum werde ich mich in den späteren Kapiteln auseinander setzen.

Nachdem sie den Leser darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Begriffe des Heiligen und des Reinen im Christentum im Laufe der Zeit äquivalent geworden sind, beschreibt von Braun das Hauptmerkmal des christlichen Glaubens folgendermaßen: „Der 'Glaube' ist jedoch spiritueller, abstrakter Art und kann durch keinen physischen Akt rituell 'bewiesen' werden. So sucht der Glaube im Wunsch nach der Überwindung aller Leiblichkeit seinen Ausdruck“.[20] Im Unterschied zum Judentum, wo ein Gläubiger täglich mehrere Reinheitsgebote und Vorschriften zu beachten hat, verpflichtet das Christentum seine Anhänger kaum auf die Einhaltung praktischer Regeln: nachdem das Ritual der Taufe, das einen von dem Schmutz der Erbsünde befreien soll, vollzogen ist, gibt es nur eine Sünde, die zur Verunreinigung und anschließender Exkommunikation aus der christlichen Gemeinde führen kann: der Zweifel.[21]

Obwohl es, was das fromme Ausüben des christlichen Glaubens betrifft, von offizieller Seite kaum sehr strikte Reinheitsvorschriften gibt, findet der Wunsch nach der Vereinigung mit Gott in einer der wichtigsten Sphären des menschlichen Lebens seinen Ausdruck: „in gewisser Weise wiederholt sich in den geschlechtlichen Reinheitsgesetzen die Funktion, die dem Opfer zugewiesen wird, nämlich die strenge Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, wobei das Fremde oft zugleich als 'weiblich' konnotiert wird. Als 'rein' kann demnach nur gelten, was vom Fremden geschieden ist. Im Kontext einer Vergeistigung der Reinheitsvorstellungen wird jedoch das Körperliche selbst, die Sexualität schlechthin als 'unrein' gedacht (und dem Weiblichen zugewiesen)“.[22]

Anders als in der jüdischen Religion, so von Braun, deren Rituale dazu dienen, die Vereinigung mit anderen Mitgliedern der Gemeinde und damit den Unterschied gegenüber allem Göttlichem hervorzuheben, liegt den christlichen Ritualen ein vollkommen anderer Zweck zugrunde: Ziel der rituellen Handlungen des Gläubigen ist die Vereinigung mit Gott. Dies ist nach von Braun auf zwei Weisen möglich: entweder man lebt in Keuschheit, wodurch sein Leib und Seele zugleich bereinigt werden, oder man nimmt an Ritualen teil in deren Verlauf es zur Berührung mit dem Blut Christi kommt: „Das Blut des Erlösers ist rein, weil er in Keuschheit gezeugt wurde und aus dem unbefleckten Leib des Muttergottes hervorgegangen ist“.[23] Reinheit steht damit im engsten Zusammenhang mit Enthaltsamkeit, Askese – derjenige, der sich von allem körperlichen distanziert, gilt als besonders frommer Gläubiger und wird zum Vorbild für die anderen Mitglieder der Gemeinde.

Von Braun sieht hier einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Begriff der 'Erbsünde', der den Menschen allein durch seine Geburt unrein macht.[24] Da der Geburt aller Menschen bis vor Kurzem ausnahmslos ein Geschlechtsakt zugrunde lag, musste ein neues Mitglied der christlichen Gemeinde zuerst durch das Ritual der Taufe von seinen ererbten Sünden gereinigt werden.

Gury Schneider-Ludoff bezeichnet Reinheit im Christentum als „Hinwendung vom Unreinen zum Reinen“.[25] Neben dem zentralen Rituals der Taufe nennt er die Endreinigung durch das Gericht Gottes als einen der wichtigsten Wege, der aus der Sünde herausführt und damit zugleich den Zustand der Unreinheit überwindet.

Im frühen Christentum und im Mittelalter gab es noch mehrere Konzepte, deren Befolgung die Erreichung des Zustands der Reinheit versprachen: z.B. galt seit dem 2. Jahrhundert, so Schneider-Ludoff, die Buße als „notwendiges Sakrament der Reinheit der schon christlich Gewordenen“.[26] Johannes Cassianus führte den Begriff 'puritas cordis', die Reinheit des Herzens, ein und gab den frommen Christen eine detaillierte Beschreibung des Weges zur spirituellen Perfektionierung an die Hand, die weit über die Befolgung der zehn Gebote hinausging. Die Anfangsphase, praktike genannt, bestand in dem aktiven Kampf mit Verunreinigungen durch die körperlichen Passionen, theoretike, der kontemplative Teil des Weges, war erst nach dem Erreichen des Reinheitszustandes begehbar.[27]

Im Mittelalter wurde die Vorstellung von christlicher Reinheit noch komplexer. Schneider-Ludoff betont die zunehmende Wichtigkeit des Fegefeuers als letzter Reinigungsinstanz, die einen Menschen von den irdischen Sünden befreien sollte, was aber nicht bedeutete, dass ein frommer Gläubiger in seiner Lebenszeit rücksichtslos sündigen konnte: „Zugleich wurde auch die diesseitige Frömmigkeitspraxis von einem auch die Reinheit erfassenden Stufensystem der Heilserlangung geprägt“.[28]

Nach dem Ausbruch der sexuellen Revolution und mit zunehmender Säkularisierung der westlichen Gesellschaften rückte das Thema Reinheit im Christentum zwar in den Hintergrund, doch überraschenderweise findet man immer wieder Diskussionen über rein/unrein im Sinne von richtig/falsch, die von Gläubigen initiiert werden, welche anscheinend einen Leitfaden brauchen, um ihr Alltagsleben zu organisieren. Als Beispiel dafür kann ich mehrere große russisch-orthodoxe Internet-Foren nennen, die ausnahmslos um die von Frauen diskutierte Frage kreisen, wie sie sich in den Zeiten ihrer Periode verhalten sollen. Etwas genauer werde ich auf dieses Thema im achten Kapitel eingehen.

[20] Von Braun 1997, S. 15.

[21] Vgl. Ebd.

[22] Ebd., S. 18.

[23] Ebd., S. 7.

[24] Vgl. Ebd.

[25] Schneider-Ludoff, Gary u.a.: Christentum (Rein und unrein). In: Religion in Geschichte und Gegenwart VII (2004), S. 252.

[26] Ebd.

[27] Vgl. Christou, Panagotius: John Cassian. In: Jones, Lindsay (Hrsg.): Encylopedia of Religion. Bd. 3. Detroit u.a. 2005, S. 1447.

[28] Schneider-Ludoff 2004, S. 252.
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