|
7.1 Reinheitsvorstellungen und Vorschriften im Protestantismus
Obwohl der Protestantismus die einzige von mir untersuchte Abzweigung des Christentums ist, in der im Laufe des 20. Jahrhunderts revolutionäre Änderungen zu beobachten waren, bedeutet dies noch lange nicht, dass Reinheitsvorstellungen im Bereich der Geschlechterverhältnisse hier nicht vorhanden wären. Wohlrab-Sahr/Rosenstock weisen auf Folgendes hin:
„Im Protestantismus wird die Höherbewertung des Klerikerstandes und damit auch des zölibaten Lebens verabschiedet, allerdings impliziert auch dies keinen dauerhaften Verzicht auf Vorstellungen von Reinheit, die sich im Bereich der Sexualität und des Geschlechterverhältnisses manifestieren“.[124]
Besonders markant erscheint in diesem Kontext die Untersuchung von Susanna Burghartz, die sich mit Reinheitsvorstellungen im Bezug auf das Geschlechterverhältnis in protestantischen Gemeinden des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigt hat. In ihrem Artikel Jungfräulichkeit oder Reinheit? zeigt sie, dass die Grundlagen für die Möglichkeit einer Wende, wie sie im Laufe des 20. Jahrhunderts zutage trat, bereits bis in die Zeit der Reformation zurück reichen.
Burghartz sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Einführung der weltlichen Ehegerichte, dem neuen, von Luther ausgehenden Verständnis der Ehe als einer idealen Lebensform und der radikalen Veränderung religiöser Reinheitsvorstellungen: „Reinheit und Sexualität waren, wenigstens innerhalb der Ehe, nicht mehr unversöhnbare Gegensätze“.[125] Auch die Aufhebung des Zölibats hat dazu beigetragen, dass Keuschheit und Reinheit nicht länger als Synonyme verwendet wurden.
Allerdings zog diese Veränderung laut Burghartz ein neues Problem nach sich – das Problem einer trennscharfen Abgrenzung von rein und unrein. Da die einfache Gegenüberstellung von Keuschheit und Sexualität nunmehr als Kriterium ausgedient hatte, kam es zunächst zur Unterteilung des Sexualverhaltens in rein, d.h. ehelich, und unrein, nämlich außerehelich. Dadurch entstand die Möglichkeit, dass ein Eheversprechen als ein ausreichender Grund zum Geschlechtsverkehr angesehen wurde; und obwohl die Frau dann ihre Jungfräulichkeit verlor, galt sie trotzdem als ehrbar und rein – vorausgesetzt, das Versprechen wurde eingehalten. Burghartz beschreibt einige Fälle aus der Praxis des Baseler Ehegerichts, die überwiegend dadurch zustande kamen, dass Frauen auf die Einhaltung des ihnen gegebenen Eheversprechens klagten, und zwar mit der Absicht, ihre Ehre und ihren guten Ruf zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Die Tatsache, dass keine physiologische Jungfräulichkeit mehr vorlag, spielte bei diesen Prozessen kaum noch eine Rolle.
Die Autorin betont außerdem, dass alle bedeutenden Theologen der Reformationszeit, ob Luther, Zwingli, Calvin oder andere, sich in ihrem Verständnis der ehelichen Reinheit einig waren.[126] Die Ehe hatte demnach einen Doppelcharakter: sie war zum einen Instrument der Reinigung und im selben Moment auch Zustand der schon erreichten Reinheit – und diese Ansicht musste nun an die Gläubigen vermittelt werden. Burghartz zitiert Heinrich Bullinger, den Nachfolger von Zwingli in Zürich, der eine Art Ehelehre verfasste, in der er die neuen Verhaltensregeln erläuterte und sich insbesondere mit dem Thema Reinheit auseinander setzte: „Denn das ist der Wille und das Gebot des Herrn (wie Paulus sagt) unsere Heiligung, dass wir uns enthalten vor Hurerei oder Unreinheit; und ein jeglicher unter uns wisse, seinen Leib zu behalten in Heiligung und Ehren nicht in fleischlicher Lust, wie die Heiden, die von Gott nichts wissen“.[127]
Festgehalten werden kann also, dass es um die Mitte des 16. Jahrhunderts zu einer charakteristischen Verschiebung kam, bei der das Ideal der Reinheit vom Gebot der völligen Keuschheit auf ein ans Eheleben gekoppeltes Sexualverhalten überging. Es ist wichtig zu betonen, dass der Geschlechtsverkehr vor der offiziellen Kirchentrauung zu dieser Zeit laut Burghartz brauchtümlich war, doch mit dem geänderten Blick auf die Sexualität rückte nun das Eheinstitut, das nicht mehr mit Unreinheit verbunden war, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit dieser veränderten Sichtweise konnte nun zugleich auch die Aufhebung des Zölibats gerechtfertigt werden. Bullinger beruft sich hierfür auf Paulus, aus dessen Sicht es besser sei eine Ehe einzugehen als unter Konsequenzen der Sexualitätsabwesenheit zu leiden.[128]
Burghartz fasst Bullingers Argumentation dahingehend zusammen, dass die Abschaffung des Zölibats vollkommen gerechtfertigt sei, „weil ein reiner Stand [die Geistlichen] nicht durch eine reine Ordnung [die Ehe] verunreinigt werden könne“.[129] Gleichzeitig wurden nun einige Aspekte des Ehelebens kirchlich streng reglementiert, wozu vor allem der bereits erwähnte „frühe Beischlaf“ zählte. Wie es den Theologen der Reformation gelungen war, die gesellschaftlichen Moralnormen in Sachen Ehe zu verändern, werde ich im Laufe dieses Kapitels etwas detaillierter zeigen.
Die strengen, im Katholizismus üblichen Reinheitsgebote bilden gewissermaßen den Hintergrund, vor dem der Kontrast zu den reformatorischen mittelalterlichen Vorstellungen von rein und unrein im Bereich von Ehe und Sexualität besonders deutlich wird: „Mit der Einführung des Delikts des 'frühen Beischlafs' wurde die moderne 'voreheliche' Sexualität überhaupt erst erfunden und zugleich als sündhaft dargestellt“.[130] Im Jahre 1637 wurde in Basel die kirchliche Trauung als einzig akzeptable Form der Eheschließung legalisiert.[131]
Die Einhalung des Gebots der Reinheit auf allen Lebensebenen und ihre gesetzliche Durchsetzung thematisierte insbesondere Antistes Theodor Zwinger. Von Unglücksereignissen (Teuerung, Erdbeben etc) innerlich erschüttert, die sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Basel zutrugen, strebte Zwinger nach "neuer Reinheit des Lebens".[132] Diese sollte auf der vollkommenen körperlichen und sittlichen Reinheit des evangelischen Volkes basieren, das dadurch von anderen Völkern unterscheidbar und 'Gottes Gunst' auf sich ziehen würde.[133]
Dieses Streben brachte insofern Früchte, als Zwinger eine theoretische Basis für die bald folgende Einführung der neuen gesetzlichen Normen schaffen konnte: "Mit Hilfe der Konzepte von Reinheit und Befleckung, Zugehörigkeiten und Ausschluss, Ordnung und Unordnung wurden hier individuelle Verhaltensweisen, die den Gebrauch des Körpers von Männern und Frauen betrafen, in Bedrohungen des Gemeinschaftskörpers und in Gefährdungen des Verhältnisses von Gemeinde und Gott transformiert".[134]
Damit war jedes einzelne Mitglied der Gemeinde aufgefordert, auf seine eigene Reinheit zu achten – was nur durch Beachtung einer Vielzahl von Regeln möglich war. Eheliche Sexualität wurde nun noch strenger reglementiert, was allerdings ihren Wert eher erhöhte, da sie nun als die einzig zulässige Form des Geschlechtsverkehrs galt.
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der Begriff der Reinheit eine spezifisiche Form annahm und sich in erster Linie auf zwischengeschlechtliche Beziehungen bezog. Religiöse Reinheit als solche, vor allem die Reinheit der Kultdiener, stand nicht mehr im Mittelpunkt – vielmehr war es nun die Reinheit aller Mitglieder einer Gemeinde, die allein durch die Beachtung bestimmter gesellschaftlicher Regeln (z.B. die Vermeidung des 'frühen Beischlafs') erreicht werden konnte, auf die besonderer Wert gelegt wurde.
[124] Wohlrab-Sahr/Rosenstock 2000, S. 292.
[125] Burghartz 1992, S. 13.
[126] Vgl. Ebd., S. 23.
[127] Bullinger zit. n. Burghartz, S. 23.
[128] Vgl. Ebd., S. 24.
[129] Ebd.
[130] Ebd., S. 32.
[131] Ebd.
[132] Ebd., S. 30.
[133] Vgl. Ebd.
[134] Ebd., S. 31.
|