Maria

Der Begriff der Reinheit im Christentum

1. Einleitung

Der Begriff der Reinheit hat in jeder Weltreligion eine zentrale Bedeutung. Die konkreten Ausprägungen der Reinheitsvorstellungen unterscheiden sich dabei von Religion zu Religion. An ihnen lassen sich sowohl Eigenarten des jeweiligen Glaubenssystems als auch seines Verhältnisses zur umgebenden Gesellschaft aufzeigen. Innerhalb des Christentums gibt es keine eindeutige Definition von Reinheit. Vielmehr existiert in den vielfältigen Spielarten dieser Religion eine ganze Reihe von Reinheitsvorschriften, die stark variieren und nur lose miteinander verknüpft sind.

In dieser Arbeit gehe ich davon aus, dass Religion und Gesellschaft aufs engste miteinander verbunden sind. Diese Beobachtung gilt sicherlich für Gesellschaften früherer Epochen, in denen Religion und religiöse Praktiken der Menschen eine noch sehr viel eindeutigere, nicht hinterfragte Bedeutung hatten. Sie gilt aber auch für unsere heutige Gesellschaft, in der die Frage nach den letzten Dingen (wieder) immer häufiger unter Bezugnahme auf religiöse Deutungsangebote beantwortet wird. Aber auch in säkularen Gesellschaften hat die Religion - sozusagen als verdeckte (oder auch verdrängte) Antriebskraft - ihre Bedeutung bei der Hervorbringung gesellschaftlicher Phänomene. Beispielhaft hat dies Max Weber gezeigt. Seine berühmte Untersuchung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus behandelt die sozial-kulturellen - und das heisst hier: religiösen - Grundlagen des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Daher kann auch eine Untersuchung über Reinheitsvorstellungen in den Weltreligionen, so die Vermutung meiner Arbeit, Aussagen über das heutige moderne Leben in unserer Gesellschaften hervorbringen. Ich werde mich auf einen Vergleich der drei Hauptabzweigungen des Weltchristentums konzentrieren und versuchen, den Zusammenhang zwischen den Auffassungen des Begriffs der Reinheit im Katholizismus, Protestantismus, sowie russisch-orthodoxen Christentum einerseits und der Stellung der Frau in den jeweiligen Gesellschaften andererseits zu untersuchen.

Warum habe ich gerade diese drei Bereiche des Christentums ausgewählt? Zur Begründung meiner Wahl möchte ich vor allem sagen, dass die orthodoxe Tradition mir am nähesten ist, da ich in ihrer Rahmen aufgewachsen bin und dadurch von der Position eines 'Insiders' berichten kann. Katholizismus und Protestantismus sind die größten Abzweigungen des Christentums in Deutschland, dem Land, in dem ich seit etlichen Jahren lebe und studiere und mit dessen Kultur und Religion ich vertraut sein möchte. Da meine berufliche Zukunft ebenso an dieses Land geknüpft ist, will ich nun die Chance nutzen und mich intensiv mit den Besonderheiten der bedeutendsten Religion Deutschlands auseinander setzen.

Historisch gesehen hat die Institution der Kirche bereits seit Jahrtausenden einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben und durfte in den wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Fragen mitentscheiden. Dies bedeutete auch, dass diejenigen, die kirchliche Macht besaßen, ebenso ein bestimmtes Stimmenrecht genossen. Bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren es Männer, die sowohl über das Geschehen in der Kirche als auch in den anderen wichtigen Lebenssphären entscheiden durften. Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts – also in einer Zeit, in der die politische Mitentscheidung von Frauen dank des allgemeinen Stimmrechts gesellschaftlich längst akzeptiert war – wagten die ersten Frauen laut zu fragen: „Warum sind es ausschliesslich Männer, die in der Kirche die Entscheidungen fällen?“ Als Teil der feministischen Bewegung entstand damals auch die feministische Theologie, die sich mit den traditionellen theologischen Fragen aus einer vollkommen neuen Perspektive – derjenigen der Frau – beschäftigte.

In dieser Arbeit möchte ich jedoch versuchen, das Problem aus einer neutralen Sicht zu betrachten. Ausgangspunkt ist dabei der mich faszinierende Kontrast zwischen dem enormen Fortschritt der Emanzipation, der Frauen in nahezu allen Lebenssphären gleiche Rechte verschafft hat, und der kaum veränderten Stellung der Frau innerhalb der Kirche. Dies bedeutet nicht, dass ich die Arbeiten aus dem Bereich der feministischen Theologie vollkommen ignorieren werde, sondern lediglich, dass diese Arbeit einen relativ objektiven, selbstständigen Versuch der Problemanalyse darstellen soll. Allerdings stimme ich in meiner Ansicht dieser theologischen Abzweigung Tarja S. Philip. Philip berief sich ihrerseits auf Alice Ogden-Bellis, die auf den Vorwurf, ihre Studien seien subjektiv antwortete, dass es keine objektiven Studien geben kann, da "everyone is influenced by her/his gender, age, color of the skin, the social, cultural and geographical place in the world, life experience and surrounding ideas".[1] Diese neue Theologie bietet eine prinizipiell neue Ansicht der zentralen Themen der Religion und öffnet gleichzeitig die Tür zu den neuen, wenig untersuchten Aspekten.

Anstoß zur Wahl des Themas war für mich meine Teilnahme an dem Seminar Männlich und Weiblich in den Religionen, in dessen Rahmen ich mich anhand eines Referats und einer Hausarbeit näher mit der Person Maria Magdalenas beschäftigt habe. Während der Recherche zu dieser Hausarbeit stieß ich auf die Homepage einer Fraueninitiative namens Maria von Magdala, auf der als Ziel dieser Bewegung die Gleichberechtigung von Frauen innerhalb der römisch-katholischen Kirche angegeben war. Nachdem ich mich mit dem Inhalt der Seite vertraut gemacht hatte, nahm die Leitfrage der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal Gestalt an: Ist es wirklich so, dass mehrere Millionen Christinnen auf der ganzen Welt zwar einen starken Glauben aber in ihrer Kirche keine Mitsprache haben? Woran kann das liegen? Diese Arbeit soll einen Versuch darstellen, hierauf eine Antwort zu formulieren.

Bei meinen Untersuchungen gehe ich davon aus, dass die kirchliche Position eines Geschlechts sich bereits seit der Antike in seiner gesellschaftlichen Stellung widerspiegelte. Da eine solche Position für Männer durch die spezifischen Reinheitsvorstellungen besonders günstig war (d.h. aktive Teilnahme an Gottesdiensten, Auslegung der heiligen Schriften etc.), hatten sie auch dementsprechend mehr Macht innerhalb der Gesellschaft. Frauen, die wegen der Monatsblutungen in sich wiederholenden Zeitabschnitten als unrein galten, bekamen dadurch eine untergeordnete Stellung sowohl in der Kirche als auch im alltäglichen Leben zugewiesen. Dies galt für das römisch-katholische sowie für das orthodoxe Christentum. Auch heute sind Frauen innerhalb dieser Abzweigungen des Christentums von der aktiven Teilnahme am kirchlichen Geschehen ausgeschlossen.

Die Abwesenheit von diskriminierenden Vorstellungen von Reinheit im heutigen Protestantismus und die gleichzeitige Möglichkeit für Frauen, in der evangelischen Abzweigung des Christentums sich aktiv an Gottesdiensten zu beteiligen und eventuell leitende kirchliche Positionen zu besetzen, erscheint mir als ein interessantes Argument zugunsten einer genaueren Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem oben genannten Begriff und seiner Auswirkung auf die gesellschaftliche Position der Frau in den entsprechenden Abzweigungen des Christentums.

Besonders wichtig erscheint mir in diesem Kontext das Thema Frauenordination. Ordination im Sinne von Machtübertragung stellt für mich die Parallele zum bürgerlichen Stimmenrecht innerhalb der Gesellschaft dar. Gründe, die für den Ausschluss der Frauen von einer Ordination im katholischen, sowie orthodoxen Christentum genannt werden, beruhen in erster Linie auf den traditionalistischen Auslegungen der Heiligen Schrift. Meines Erachtens ist die Untersuchung dieses Themas aus einer etwas breiteren, nämlich soziologischen Perspektive erforderlich, um zu zeigen was genau dazu führte, dass solche Auslegungen überhaupt möglich waren. Deswegen möchte ich betonen, dass diese Arbeit nicht als eine rein religionswissenfaschltiche Untersuchung gesehen werden kann, da ich mich gleichzeitig intensiv mit dem soziologischen Aspekt des Problems beschäftigen werde.

Die Verbindung zwischen der Unterscheidung von Reinheit und Unreinheit im religiösen Kontext und der sozialen Geschlechterordnung wurde bereits von Monika Wohlrab-Sahr und Julika Rosenstock angesprochen[2], die sich wiederum auf die von Max Weber vorgeschlagene These „von der 'wechselseitigen Vertretbarkeit' der religiösen und der erotischen Sphäre“[3] berufen. Auf deren Begründungen dieses Zusammenhangs werde ich im vierten Kapitel dieser Arbeit detailliert eingehen.

Hierzu soll im ersten Abschnitt zunächst der allgemeine Begriff der Reinheit näher betrachtet werden, wobei ich mich zugleich auf die Reinheitsvorstellungen im Christentum (ohne Unterteilung in entsprechende Abzweigungen) konzentrieren werde. Im dritten Teil wird der Zusammenhang zwischen dem Begriff der Reinheit und den Rollen der Geschlechter innerhalb einer Gesellschaft untersucht. Schliesslich beschäftige ich mich mit konkreten Reinheitsvorstellungen in den relevanten Abzweigungen des Christentums und nenne einige Beispiele der Auswirkungen bestimmter Reinheitsauffassungen auf die gesellschaftliche Stellung der Frauen. Von besonderem Interesse ist für mich dabei das Problem der Frauenordination. Im abschliessenden Teil soll vor diesem Hintergrund die Frage, inwieweit die Ausübung bestimmter Reinheitsvorschriften die gesellschaftliche Rolle der Frau beeinflusst hat, aufgegriffen werden.

[1] Philip, Tarja S.: Menstruation and Childbirth in the Bible. Fertility and Impurity. New York u.a. 2006, S. 13.

[2] Vgl. Wohlrab-Sahr, Monika, Rosenstock, Julika: Religion - Soziale Ordnung - Geschlechterordnung. Zur Bedeutung der Unterscheidung von Reinheit und Unreinheit im religiösen Kontext, S. 279.

[3] Ebd., S. 280.
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